Streuobstwiesen sind unser jüngstes Ökosystem außerhalb der Wälder, aber gleichzeitig fast unser wichtigstes. Warum?
Im Mittelalter wurden Obstbäume nur innerhalb der Ortsetter gepflanzt. Erst später etablierte sich der Brauch, sie auch in die freie Landschaft "zwischen die Äcker" zu pflanzen. Der Bedarf war gering, und Obstbäume versorgten meist nur die eigene Familie oder waren Grundlage für eigenen Most.
Das änderte sich dramatisch erst im 19. Jahrhundert mit dem Aufkommen der Eisenbahn. Diese ermöglichte, das Obst in kurzer Zeit in die Städte zu bringen. Obst- und Mostverbrauch explodierten, man konnte gutes Geld verdienen, und zahllose Obstbäume wurden in ebensovielen Sorten in die Feldflur ausgebracht. Ganze "Obstbaumschulen" studierten die Sortenkunde, zuallervorderst der Vater von Friedrich Schiller im Schwäbischen.
Schließlich waren die Obstbäume eine bessere Geldquelle als der Acker darunter, der sich außerdem wegen der Bäume nur schwer pflügen ließ und deswegen oft in Wiesen umgewandelt wurde. Diese dienten nur als "Pflanzfläche für Bäume" und wurden weder gedüngt noch intensiv genutzt. So waren schließlich zum Anfang des 20. Jahrhunderts große Flächen des Kraichgaus rund um die Dörfer mit arten- und blumenreichen Obstwiesen bedeckt. Manche Kraichgaudörfer wie das kirschenreiche Unteröwisheim lebten bis nach dem 2. Weltkrieg maßgeblich vom Obstbau.
Erst zum Ende des 20. Jahrhunderts drehte sich das Bild. Die rasante Expansion der Neubaugebiete in die ortsnahen "Streuobstgürtel" fraß diese auf. Außerdem wurden große Flächen in Gartenhausgebiete mit illegalen Hüttchen und Zäunen umgewandelt. Das Schlimmste für viele Flächen war aber die Überalterung nicht ihrer Bäume, sondern der Besitzer, die die Flächen nicht mehr pflegen wollten. Weit über die Hälfte der Streuobstflächen ging daher bis 2000 verloren.
Abhilfe versprach ein bereits andernorts erfolgreich angewandtes Modell: die Vermarktung regionaler Obstsäfte. Es gründete sich die "Streuobstinitiative" unter Federführung des unermüdlich tätigen Hans-Martin Flinspach. Das Modell erscheint einfach: Die lokalen Streuobstbesitzer erhalten einen attraktiven Aufpreis für ihr Obst, der zu geringfügigen Mehrkosten pro Flasche Apfelsaft führt. Die Verbraucher zahlen gerne diesen kleinen Obolus und erhalten einen dafür einen schadstofffreien, regional erzeugten Obstsaft, der nicht aus China von handbestäubten Bäumen hergekarrt wird - eine Win-Win-Situation für alle Parteien.
Große Flächen der noch verbliebenen regionalen Obstwiesen konnten so vor dem endgültigen Verfall gerettet werden, besonders auf der Gemarkung Kraichtal.
Die Geschichte der Obstwiesen und der Streuobstinitiative kann im noch erhältlichen Buch "Obstwiesen im Kraichgau" im Detail nachgelesen werden; außerdem kann man viele Details auf der Website der Streuobstinitiative finden.
Die AGNUS bemüht sich derzeit, die Unterschutzstellung der Obstwiesen zu fördern und Konzepte für ihre Pflege zu finden. Die Herausforderungen bleiben aber gewaltig. Helfen Sie uns dabei!
(MH)